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Vom Glück, selbst lernen zu dürfen

Oder: was psychologische Grundbedürfnisse damit zu tun haben, dass KI das Lernen nie ersetzen wird, obwohl sie es könnte - sogar mit besseren Ergebnissen. 

 

Bücher, Studien (oder besser: Experimente) über Lernen und KI sprießen aus dem Boden und sie alle treibt der Gedanke um: brauchen wir überhaupt noch Lernen, wenn KI doch alles besser, schneller und einfacher kann? Es geht dabei viel um Neurobiologie, Lernpsychologie und Kompetenzerwerb. Aber fast nie um Glück.

Was uns Spaß macht


Szenenwechsel: vor einigen Jahren sah man auf jedem zweiten Kopf eine Booshi Mütze. Anfangs noch von eigens dafür engagierten „Omis“ gehäkelt, griffen die Träger:innen schnell selbst zur Nadel - DIY-Packs machten es selbst für blutige Anfänger:innen möglich. Mit der Begeisterung fürs Häkeln wuchs nicht unbedingt die Schönheit des Endprodukts. Egal, der Spaß am Selbermachen schlug alles - auch den Preis (eine vergleichbare Mütze im Laden: deutlich günstiger).

 

 

Ähnliches Phänomen beim Töpfern. Es ist schwer, in diesen Tagen in München noch einen Platz an der Drehscheibe zu ergattern, um z.B. eine mehr oder weniger ansprechende Tonschale zu produzieren, die ich für einen Bruchteil des Geldes und in richtig schön sofort in einem Laden erwerben könnte.

Bild von einem virtuellen Gasthaus, in dem Schafkopf gespielt wird

 

Gehen wir nun ins (virtuelle) Wirtshaus, in dem ich seit ein paar Monaten meine verschütteten Schafkopf Kompetenzen aufbessere. Schafkopf ist ein bayrisches Kartenspiel, das man zu viert spielt und bei dem man möglichst viele Punkte durch Stechen machen muss. Über eine App trainiere ich das. Dort gibt es ein Symbol, das man anklicken kann, um einen Ratschlag für den nächsten Spielzug zu erhalten. Würde ich dies jedes Mal anklicken, würde ich nahezu immer gewinnen. Tue ich aber nicht.

 

Entsprechend oft scheitere ich, mache grobe Fehler, die mir im virtuellen Wirtshaus verziehen werden - im realen eher nicht. Umso größer ist die Freude zu sehen, dass ich immer öfter gewinne und Hilfestellung immer seltener brauche.

 

Vor einer Reise sitze ich gerne inmitten von Karten, Reiseführern, meinem Tablet voller Reiseblogs sowie Stift und Zettel mitten im Wohnzimmer und tüftle an Routen, Aktivitäten, Busverbindungen und Übernachtungen. Vorfreude pur. Dabei könnte ChatGPT mir mit ein paar Vorgaben die „perfekte“ Route in 2min erstellen. Gähn, wie langweilig. Mach ich also nicht.

 

Jetzt kann man sagen: ok, das sind ja alles Sachen, an denen du letztlich Spaß hast! Meistens zumindest.

 

Da kann ich noch eines drauf legen: Buchhaltung und Steuererklärung. 20 Jahre habe ich sie vom Profi machen lassen, in 2025 zum ersten Mal selber gemacht. Für mich war das wie Detektivarbeit oder Schnitzeljagd. Woher kommt diese Zahl in der alten Steuererklärung und wo genau muss das häusliche Arbeitszimmer eingetragen werden? Spoiler: ELSTER legt gerne falsche Fährten, es kommt also ganz woanders hin als es der gesunde Menschenverstand tun würde. Steuererklärung ist ein akribisches Tüfteln und für mich zu 95% spaßbefreit.

 

Aber dann sind da diese Momente, wenn ich eine (bestätigte) Entdeckung mache, wenn ich plötzlich Licht am Ende des Tunnels sehe, wenn eine "Logik" begriffen habe. Das ist Erkenntnisglück pur. 

Lernen ist Teil unseres Menschseins


Langer Rede kurzer Sinn: natürlich könnte ich bei all den genannten Beispielen schnell und günstig deutlich bessere Ergebnisse erzielen. Will ich aber nicht.

 

Weil hier der angestaubte Satz „der Weg ist das Ziel“ stimmt. Weil der Weg, gerade weil er oft steinig und anstrengend ist, so viel Spaß und mich stolz macht. All das habe ich selbst geschafft - ein unbeschreiblich erhebendes Gefühl. 

 

Schaut man genauer hin, entdeckt man die psychologischen Grundbedürfnisse (nach Grawe, Deci & Ryan):

  • Selbstwirksamkeit (ich habe es selbst geschafft!)
  • Kompetenzerleben (ich kann jetzt etwas, was ich vorher nicht konnte!)
  • Lustgewinn / Freude erleben (Lernglück ist wie Gipfelglück - unbezahlbar)
  • Kontrolle über den Prozess (ich habe es im Griff, nicht umgekehrt)
  • Soziale Beziehungen (v.a. dann, wenn ich mit anderen zusammen lerne und erforsche)

 

Die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse macht uns zufrieden und glücklich. Wer sich dies nehmen läßt, verliert ein großes Stück Lebensqualität.

Lernen ist nicht das Ergebnis, es ist immer der Weg zu Wissen und Erkenntnis


Bildschirmfoto von ChatGPT "Studieren und Lernen" Funktion

 

Die neue Funktion bei ChatGPT "Studieren und Lernen" ist in diesem Sinne vielversprechend. Sie basiert auf dem Sokratischen Fragen und liefert eben keine fertigen Ergebnisse, sondern gibt Struktur für das Selberlernen. Die ersten Rückmeldungen dazu sind sehr unterschiedlich, ich selbst habe es noch nicht ausgiebig getestet. Sobald ich dies getan habe, werde ich berichten.

 

Wenn wir Lernende also dazu motivieren wollen, auch in Zukunft selbst zu denken und zu lernen, dann müssen wir helfen, dass das Lernen positiv besetzt wird. Dass wir Lust drauf haben! Dass es uns glückselig macht (Lerncoaching ist genau dafür übrigens ein wichtiger Beitrag). Dazu braucht es sicherlich mehr als eine neue Funktion.

 

Wenn uns das gelingt - egal ob in der Schule, in der Ausbildung oder im Corporate Learning, dann bin ich sicher: KI wird Lernen NIE ersetzen. Wir brauchen das Lernen, um Mensch sein und Glück empfinden zu können. Das sehe ich als einen dringenden Auftrag in der Bildung!

 

Oder anders gesagt: wir lieben Lernen viel zu sehr, um es einfach so abzugeben.  


🧠 Tipps zum Weiterdenken 

 

➡️ Tipp: KI Poker

Das Kartenspiel, das dir hilft, Klarheit über den Einsatz von KI zu gewinnen. 
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➡️ Tipp: Meine Liebeserklärung für Lernen

In der Podcast Folge von Dierk Söllner zum Thema KI und Lernen findest du weitere Impulse aus der psychologischen Sicht des Lernens.

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➡️ Tipp: KI-Pralinen

KI verantwortungsvoll, mit Mehrwert und guten Aufwand/ Ergebnis-Verhältnis nutzen.

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