· 

Bremst Positive Psychologie die gesellschaftliche Entwicklung?

Um es gleich vorneweg zu sagen: ich stehe zu 100% hinter dem Grundgedanken der Positiven Psychologie (was macht Menschen glücklich, zuversichtlich, optimistisch und zufrieden?). Das Flow-Konzept hat mich schon begeistert als es den Begriff der PP noch gar nicht gab. Auch in unseren Seminaren geht es seit jeher um genau diese Themen.

 

Und dennoch haben sich für mich Fragen aufgetan seit die Positivie Psychologie immer mehr in Mode kommt und dieses psychologische Forschungsgebiet ein Revival unter diesem Label erfährt.

Zum Beispiel frage ich mich: was würde passieren, wenn das Konzept aufginge. Wenn jeder wirklich glücklich, zufrieden, optimistisch und jederzeit zuversichtlich wäre. Kurz: eine sogenannte "Grinse-Gesellschaft" entstehen würde. Natürlich ist der erste Gedanken: super! Das würde ganz viele Probleme auf dieser Welt in Nichts auflösen.

 

Auf der anderen Seite könnte ich einwenden: sind nicht gerade auch Bedenken, Zweifel, der Blick für negative Konsequenzen, ungute Gefühle und Unzufriedenheit ein besonderer Antrieb für persönliche und gesellschaftliche Veränderung, für politische und soziale Weiterentwicklung?

 

Zugegeben, es ist etwas provokativ gefragt, aber ich meine es durchaus ernst: Setzt sich ein "positiv psychologischer" Mensch sich tatsächlich inbrünstig gegen Massentierhaltung oder für Klimaschutz oder für eine bessere Flüchtlingspolitik ein? Was wäre, wenn er nicht immer wieder an den aktuellen Gegebenheiten verzweifeln würde, wenn er sich nicht immer wieder ohnmächtig fühlen würde, mitLEIDEN würde, wütend wäre und auch zutiefst pessimistisch wäre?

 

Und was ist mit der Kunst? Gerade von den literarischen und künstlerischen Größen wissen wir, mit viel Selbstzweifeln und Depressionen sie geplagt waren und sind. Was wäre unsere Kultur ohne einen Beethoven, Winehouse, Picasso, Dürer, Goethe oder Jelinek? Die Philosophie ohne Sokrates, Sartre oder Nietzsche? Ich könnte noch viele weitere aufzählen, die unter Depressionen oder anderen psychischen Krankheiten litten. Und genau daraus ihre Genialität bezogen. Braucht Genie also wirklich Wahnsinn? 

 

Vermutlich ist das tatsächlich so, wie eine aktuelle Studie aus Island belegt. Hier wurde ein Zusammenhang zwischen Kreativität, künstlerischer Begabung und eine genetische Disposition für Depressionen und bipolare Störungen festgestellt. Gerade diese bemerkbare Vorstufe (nicht der Ausbruch der Krankheit) scheint eine entwicklungsgeschichtlich wichtige Rolle für die Weiterentwicklung der Menschheit zu spielen (siehe SZ Wissen vom 09.06.15).

 

Da sei die Frage erlaubt: Welche psychologischen Impulse braucht es, um gesellschaftlichen Wandel vorantreiben zu können? Um außergewöhnliche Kunst zu schaffen? Was ist die Funktion der "negativen Psychologie" für die Menschheit? Fragen über Fragen, die von mir natürlich nicht beantwortet werden können.

 

Ich glaube, "Psychologisch positive Menschen" tun sich persönlich selbstverständlich etwas Gutes, bremsen aber womöglich die Weiterentwicklung und auch die Vielseitigkeit einer Gesellschaft. ....  Oder?

 

Danke fürs Teilen ;-)

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Anne Trambale-Faltus (Donnerstag, 23 Juli 2015 19:31)

    Ja, in der Tat eine sehr interessante Frage. Vielleicht brauchen wir beides?
    Wenn wir uns Menschen vergegenwärtigen, die Gutes in die Menschheit getragen haben oder immer noch tragen, dann sind dies durchaus prägende Persönlichkeiten: z.b. Mutter Theresa, Hildegard von Binsen, Dalai Lama. Themen wie Achtsamkeit, sind Teilkonzepte innnerhalb Firmen, die durchaus sehr leistungsfähig sind. Mitarbeiter benötigen Wertschätzung, damit sie gute Leistungen erbringen. Erfahrungen aus dem Alltag zeigen immer wieder, wie Menschen durch Wertschätzung über sich hinaus wachsen. Und letzten Endes vermögen positiv denkende Menschen negativ emotionale Menschen aufzufangen und ein Stück weit mit zu tragen. So können letztere emotional profitieren.
    Positiv denken heißt ja auch nicht, dass ich alles durch eine rosarote Brille sehe und mich permanent entspanne und damit weniger Leistung zeige. Es bedeutet auf sich zu achten und damit viel Kraft für Innovationen zu haben; in anderen Positives zu entdecken und sie genau an dieser Stelle zu motivieren, damit sie sich weiterentwickeln; in Konflikten eine Chance zur Klärung und in Fehlern Chancen zur Weiterentwicklung zu sehen. Ich bin überzeugt dass es nicht der Druck ist, der Entwicklung und Fortschritt bringt, sondern die Motivation dran zu bleiben und diese braucht positive Elemente. Man könnte ja mal Menschen, die etwas bahnbrechendes entwickelt haben fragen, was sie motiviert hat. Ich kann mir schlecht vorstellen dass es der Druck, z.b. nicht gefeuert zu werden ist. Es muss also etwas sein, was sie positiv beflügelt. Und die Künstler? Waren sie während ihres Schaffens auch in einem depressiven Gefühl? Oder war es nicht genau die Kunst/Musik, die sie davor bewahrt hat, sich noch elendiger zu fühlen?
    Die besten Chirurgen sind deshalb so gut und können konzentriert stundenlang operieren, weil sie im absoluten Flow-Erleben sind, ganz in ihrer Tätigkeit versunken merken sie nicht, wie die Zeit vergeht und leisten so viel, was einen riesigen Fortschritt bedeutet.

  • #2

    Achim Bayer (Mittwoch, 30 Dezember 2015 14:47)

    Ja, da gibt es ganz bestimmt ein Problem. Man denke nur an "1984", eines der genialsten Bücher der Menschheitsgeschichte. Es strotzt vor Negativität und ist gerade deshalb so spannend und lehrreich. In Orwells Zukunftsdiktatur wird die ganze Sprache so umgeschrieben, dass nichts richtig Negatives mehr gesagt werden kann. --- Im wirklichen Leben gilt es wohl immer, die richtige Balance zu finden zwischen Wohlfühlen und Herausforderung. Ganz ohne Herausforderung wird es den meisten Menschen sowieso schnell langweilig, so hat uns die Evolution zum Glück programmiert.